Eine romantisierte Treppe

 

Im Alltag lege ich die Füße lieber auf Fahrradpedalen ab als übermäßig häufig Kontakt mit dem Boden aufzunehmen. Dennoch konnte ich mich zu jenem Zeitpunkt zu der breiten Masse zählen, die das Spazierengehen zu schätzen gelernt hatte. An jenem Nachmittag war ich in der Nachbarschaft unterwegs, ein weiterer von unzählig vielen ähnlichen kurzen Ausflügen in dem Jahr. Bis dahin war Spazierengehen für mich eher eine Sache, die ich tat, wenn ich zu viel gegessen hatte aka Verdauungsspaziergang.

Meistens gehe ich bekannte Wege, aus Faulheit. Aber an diesem einen Herbsttag war ich wohl ein ganz kleines Ticken abenteuerlustiger unterwegs und landete durch einmal anders abbiegen auf diesem Hinterhof, der mich heute, fast nach einem Jahr, diesen Text schreiben lässt. Vor mir war ein weißer Treppenaufgang, geschwungen und um die Ecke gehend. Ein Treppenaufgang wie ich es aus Disney-Filmen kenne, wo Frauen in Ballkleidern und hochgesteckten Frisuren herunterkommen. Nicht ganz so lang. Und nein, das habe ich damals nicht gedacht, aber das denke ich jetzt, wenn ich diesen Treppenaufgang sehe. Am Ende der Treppe eine hohe Tür aus Holz mit Fensterfronten und einem Türbogen. Darüber ein Dach, das wie ein Deckel einer Zuckerdose aus Porzellan aussieht.

Und so sehr dieser Eingang mich an Romantik erinnert und ich mich jetzt frage, ob es sich anders anfühlt, einen Schlüssel für diese Tür zu besitzen als zu anderen Türen – die Faszination bleibt darin, dass ich die Treppe weder an diesem noch an einem anderen Tag hochgegangen bin, nur dieses Foto hier habe und nun überlege, ob dieser Hauseingang sich einer romantischen Geschichte näher anfühlt als meine eigene Haustür. Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht.

Es ist amüsant, wie ich jetzt im Nachhinein die Situation romantisiere und immer wieder erstaunlich, wie sehr sich gesehene Bilder und Ideen im Kopf verankern. Denn schlussendlich stand ich nur in einem Hinterhof, schon später Nachmittag und die Häuser und Wolken standen gut und purer Zufall brachte mich dort hin. Ich hätte auch auf eine unaufregende Hausfassade treffen können (wie an den meisten Tagen) und das Bild und dieser Text wären nicht entstanden. Wie sich Dinge manchmal ergeben – auch ganz unterhaltsam wie ich finde.

Die Maschenprobe – Raum zum Lernen

Ich hab es mit der Handarbeit. Während meiner Lohnarbeit sind meine Finger vorrangig mit Maus und Tastatur beschäftigt. Handarbeit ist eine Fingerfertigkeit der anderen Art und dazu Ablenkung fürs Hirn, weil die Finger die meiste Arbeit machen.

Häkeln und Stricken sind zwei Vertreter dieser Handarbeitskategorie, die ich mir näher anschauen wollte. Ich begann mit dem Häkeln: „Arbeite erst mal nur mit einer Nadel. Und wenn du das beherrscht, kannst du dich ans Stricken mit zwei Nadeln machen!“ Was für ein Unsinn, das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.

Handarbeitsanfänge

Das Häkeln hat Spaß gemacht, aber große Projekte hatte ich dennoch nie begonnen und daher wurde das Häkeln doch wieder uninteressant. Frühjahr 2021 beschloss ich, Stricken zu lernen (geinfluenced von Leuten auf Instagram, die das Stricken für sich entdeckt hatten und ihre neue Leidenschaft online teilten). Die Grundmaschen wieder erlernen war dank ausgeliehener Büchereibücher und YouTube-Videos einfach.

Dann kam schon mein erstes Dilemma: Ich wollte ein erstes, echtes Strickstück stricken. Also etwas, das ich auch gebrauchen kann, nicht mehr nur Maschen üben – ein Kleidungsstück also. Bloß kollidierten zu diesem Zeitpunkt mein Lernstand und Fähigkeiten mit den gewünschten Strickprojekten. Mein Fähigkeitenstand war weit unter dem, was ich gerne gestrickt hätte. Und die Ungeduld und mein Bestreben erst mal keine neue Wolle zu kaufen und stattdessen erst mal das Übungsgarn aufzubrauchen, machte es nur schwieriger, ein passendes Projekt zu finden. Ein Pulli wäre cool, aber die Anleitungen meist zu schwer und ein Schal fand ich doch etwas lame. Es breitete sich Frust aus. Und damit legte ich das Stricken beiseite.

Aber diese Sommer dachte ich plötzlich: Ich hab Bock einen Schal zu stricken! Und dafür habe ich einige der Prinzipien vom Frühjahr über Bord geschmissen: a) Es wird doch ein Schal und b) ich habe mir passende Wolle geholt und die Übungswolle bleibt erst mal unberührt.

Und der Schal ist noch weit davon entfernt, fertig zu sein. Eigentlich habe ich ihn noch nicht mal begonnen und gleichzeitig in meinen Augen auch schon. Denn eine bisher unterschätzte Sache sehe ich mittlerweile anders: Die Maschenprobe.

Die Maschenprobe

Die Maschenprobe ist ein Musterstrickstück, das man anfertigt, bevor man mit der eigentlichen Arbeit loslegt, wenn man nach einer Anleitung arbeitet. Damit überprüft man gegen die Anleitung, ob die Strickgewohnheiten ähnlich der Anleitung sind.

Früher fand ich Maschenproben eher lästig, weil ich da erst mal vor mich hingearbeitet habe, um nach Beendigung der Maschenprobe (10cm x 10 cm-Stück) herauszufinden, ob ich im Vergleich zur Anleitung zu fest, zu locker oder gleich stricke (oder häkele). Und erst DANN ging es an die eigentliche Arbeit. Bäh.

Bei der Maschenprobe für den Schal hab ich aber einfach noch alles mögliche ausprobiert: Andere Muster, andere Nadelgrößen, andere Randmaschen. Es ist wie das anfängliche Ausprobieren, bloß mit einem Ziel: Mein Schal.

Im Endeffekt kann man es nennen wie man es will – vielleicht ist es auch einfach ein Probestück und nicht weiter besonders. Aber für mich war die Maschenprobe dieses Mal ein richtiges Aha-Erlebnis!

Bei der Maschenprobe bin ich nicht perfektionistisch und nicht so streng mit mir (Bloß keinen Fehler machen!) und gleichzeitig ist die Maschenprobe auch Teil des fertigen Schals. Und das ist irgendwie schön.

Die Maschenprobe wurde für mich der Raum zum zielgerichteten Üben, zum Ausprobieren und Fehlermachen, um jetzt ein bisschen mehr zu wissen, was den Schal angeht.

Was auf den Fotos wie ein komischer Schal aussieht sind also tatsächlich mehrere Maschenproben hintereinander.

Was mir die Maschenprobe de facto gesagt hat

Welche Infos habe ich aus der Maschenprobe am Ende nun ziehen können? Aus meiner Maschenprobe bin ich bin nicht schlau geworden. Im Vergleich zur Referenz auf der Banderole stricke ich in der angegeben Nadelstärke gleich viele Maschen (ergo: ich kann dahingehend mein Strickverhalten behalten); aber ich brauche viel mehr Reihen für die gleiche Höhe (ergo: ich stricke fester?). Das ist irgendwie verwirrend.

Aber für einen Schal ist es auch egal, dass das Ergebnis der Maschenprobe so ausgefallen ist. Ich weiß nun, welches Muster ich haben will und wie ich das erreiche. Und mit dem Dreisatz kann ich mir ausrechnen, wie viele Maschen ich brauche für die perfekte Breite meines Schals.

Jetzt geht’s an den wahrhaftigen Schal!

About the sock siblings and darning

Es war mal ein Sockenpaar. Ein Geschwisterpaar, das lange stolz getragen wurde. Weiß mit rosafarbigen Rauten. Was sie besonders liebenswert machte, war ihr festes Bündchen. Die Besitzerin wusste ein festes Sockenbündchen, das die Socke gut sitzen lässt, schon immer zu schätzen. Denn an Socken ist wenig nerviger als wenn das Bündchen nicht fest genug ist und ständig rutscht, an der Ferse vorbei. Und obwohl dieses Sockenpaar keinesfalls diese Schwäche hatte, so wurden beide schon seit einiger Zeit nicht mehr getragen. Stattdessen verweilten sie im Schrank und konnten von der kühlen Oberfläche eines Fußbodens nur noch träumen. Die Erinnerung an an die Innenseite eines Schuhs verblassten nach und nach. Über einen Fuß gestreift zu werden, den Fußboden zu spüren, in einem schlecht durchlüfteten Schuh zu stecken.

Später erfuhren sie, dass alles, was sie bisher kannten und mochten gleichzeitig auch der Grund dafür war, dass von nun an der Vergangenheit angehören sollte. Denn sie hatten Löcher. Löcher an den Fersen. Gerade weil die Besitzerin so gerne das Geschwisterpaar anzog und damit durch die Welt ging, entstanden die Löcher und führte dazu, dass sie nimmermehr getragen wurden.

Alle waren traurig, nicht nur das Sockenpaar, sondern auch die Besitzerin. Denn wie oft begegnet man schon einem Sockenpaar, das einfach passt? Von der Dicke der Socke, von der Länge, der Farbe und vor allem vom Bündchen her? Die Besitzerin brachte es nicht übers Herz, das Geschwisterpaar zu entsorgen, obwohl es keine Chance mehr für sie gab. Wie sollten denn diese Löcher wieder heile werden? Die Besitzerin hatte keine magischen Kräfte, mit denen diese Löcher verschwinden können.

Eines Tages, die Besitzerin war in einem Nähcafé, hörte sie das erste Mal von einer Tätigkeit namens „stopfen“. Es hieß, damit könne man Löcher schließen. Aber nicht, indem man etwa die Ränder zusammenzieht und vernäht. Nein – dort, wo ein Loch ist, sollte neues Gewebe entstehen. Die Besitzerin war  verwirrt und konnte sich solch eine Tätigkeit nicht vorstellen. Neues Gewebe erstellen, wo eigentlich nichts ist?

Wie die Geschichte dann genau weiterging, ist nicht mehr ganz  bekannt. Was bekannt ist, ist dass die Besitzerin einem Instagram-Account folgte, das sich viel mit dem Reparieren und Erhalten von Kleidungsstücken beschäftigte und so lernte sie das Wort „mending“ kennen. Faszinierend, was alles möglich war.

And at some point, the sock pair owner understood: the technique she saw on the Instagram account was called "stopfen" in German.

Damit war es um sie geschehen. Auf einmal ergab alles Sinn und sie machte sich auf, Wissen übers Stopfen anzusammeln. Sie kaufte sich übrig gebliebenes Garn und Nadeln von anderen Menschen. Alles war da, aber noch zögerte sie, den ersten Handgriff zu machen. Aber was brachte dieses Zögern schon? Irgendwo musste sie anfangen. Und die Glücklichen (oder die Unglücklichen?) waren das Geschwisterpaar Socken. Sie bekamen als erstes eine Chance darauf, neues Leben eingehaucht zu bekommen. Und so geschah es, die Fotografien beweisen es.

Nach zwei Tagen tun und werkeln war es geschafft: Beide Socken waren gestopft und das Loch verschwunden. Socke 1 wurde mit der unscheinbaren Garnfarbe beige repariert, während Socke 2 ein bisschen mutiger war mit der Farbe babyblau. Auch in der Feinheit der Stopftätigkeit unterschied sich das Geschwisterpaar. Während die Erstgestopfte noch grob bearbeitet wurde, war das Zweitgestopfte schon feinmaschiger gearbeitet. Dennoch waren am Ende des Tages alle drei – das Sockenpaar und die Besitzerin – froh und stolz, wieder eine gemeinsame Zeit vor sich zu sehen. Und wenn die Socken nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.